Friedensaktivistin Dr. Erika Drees
Im Sommer 1989 formiert sich in der DDR der Protest gegen die Staatsmacht. „Mündige Bürger“ fordern mehr Mitspracherecht
ein. Leitfigur des Aufbegehrens in Stendal ist Dr. Erika Drees. Die Ärztin, in den 60er Jahren aus dem Westen in die DDR gekommen, um den Menschen hier zu helfen, eckt immer wieder mit der Staatsmacht an.
Ihr Widerstand gegen das Kernkraftwerk rückt sie ins Visier der Staatssicherheit. 22. August 1989: Zu denen, die Veränderungen
wollen, die Allmacht der SED in Zweifel ziehen, gehört das Neue Forum. Eine Bürgerbewegung um Jens Reich und Bärbel Bohley. Erika Drees war mit Bärbel Bohley befreundet. Diese Freundschaft bringt das „Neue Forum“ nach Stendal.
Zu Mitbegründern zählen Emmi und Werner Schulze. „Die ersten Treffen fanden heimlich in der Wohnung von Frau Drees statt“, erinnert sich Werner Schulze. „Wir wussten, dass einige von uns abgehört wurden“, erzählt Emmi Schulze. Auch vermuten die Aktiven Stasi-Spitzel in ihren Reihen. „Die Angst stand im Mittelpunkt, aber wir haben uns getraut.“ Es sind nur wenige, die sich zu dieser Zeit engagieren. Der Diplom-Geologe erinnert sich, dass in seinem Betrieb, dem Kombinat Erdöl-Erdgas Gommern, zwar viel über die Situation gesprochen wird, aber von 60 Geologen ist er der einzige, der zum Neuen Forum zählt.
Die Kirche bietet der Bürgerbewegung ein Podium. Erstmals hören Schulzes beim zweiten Friedensgebet, am 17. August, in der Petrikirche vom Aufruf Bohleys. Die Stendaler Gruppe entscheidet am 19. September das Neue Forum offiziell anzumelden. Ein notwendiger Akt, der erst am 9. November den Weg in die lokale Partei-Zeitung findet.
Die Ereignisse überschlagen sich. Bald wird die Petrikirche fürs Friedensgebet zu klein. Ab Oktober findet es donnerstags im Dom statt. Menschen treffen sich, sprechen, diskutieren. „Es fragte keiner, was machst du eigentlich. Das war wohl aus heutiger Sicht naiv.“ Zwar wissen die Engagierten, „was sie nicht mehr wollten“, erinnern sich die Eheleute, doch wie die Zukunft genau gestaltet werden soll, bleibt im basisdemokratischen
Grundverständnis stecken. Das Stendaler Forum habe sich auf die „Stasi fixiert“.
Für Schulze ist der 9. November 1989 der Anfang vom Ende des Neuen. Die Grenzen öffnen sich, DDR-Bürger können reisen. Eines der größten Bedürfnisse der Bevölkerung ist erfüllt. Die Staatsmacht gerät ins Wanken, Erich Honecker tritt zurück, Egon Krenz tritt die Nachfolge an. Auch in Stendal suchen Bürgermeister, Rat der Stadt und des Kreises das Gespräch mit der Bürgerbewegung. „Keiner rechnete damit, dass es so schlagartig mit der DDR zu Ende geht“, sagt Schulze.
Auch das Stendaler Forum ist heute Geschichte, 1993 aufgelöst. Zwar zieht Werner Schulze als Beigeordneter der Stadtverwaltung bei den ersten Kommunalwahlen 1990 ins Rathaus ein, wird Sozial- und Kulturdezernent. Seine Frau wird in den Kreistag gewählt. Doch die Parteiendemokratie westdeutscher Prägung widerspricht dem Grundverständnis der Bürgerbewegung. Nur wenige von damals sind heute noch politisch aktiv.
Erika Drees kämpft nach der Wende bis zum endgültigen Aus des Projektes weiter gegen das Kernkraftwerk. Bis zuletzt tritt sie in der Bürgerinitiative „Offen(e) Heid(e)“ für die zivile Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide ein. 2002 geht sie ins Gefängnis, weil sie eine Geldstrafe wegen Hausfriedensbruch nicht bezahlen will. Sie war in das Atomwaffenlager Büchel eingedrungen, um auf die dort lagernden Atomwaffen hinzuweisen. Erika Drees stirbt am 11. Januar 2009.